April 29, 2008

Der Gerichtshof im Leben des Unionsbürgers

Von den tausenden Urteilen des Gerichtshofes haben erkennbar die meisten, insbesondere alle in Vorabentscheidungssachen erlassenen Urteile, weit reichende Folgen für das tägliche Leben der Unionsbürger. Einige dieser Urteile zu den wichtigsten Bereichen des Gemeinschaftsrechts werden im Folgenden beispielhaft aufgeführt.
  • Freier Warenverkehr

Seit dem Urteil Cassis de Dijon, das 1979 zum Grundsatz des freien Warenverkehrs erlassen wurde, dürfen Händler jedes Erzeugnis aus einem anderen Land der Gemeinschaft in ihr Land einführen, sofern es dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist und seiner Einfuhr in das Verbrauchsland kein zwingender Grund, z. B. des Gesundheits- oder des Umweltschutzes, entgegensteht.

  • Freizügigkeit

Viele Urteile wurden im Bereich der Freizügigkeit erlassen.

Im Urteil Kraus (1993) entschied der Gerichtshof, dass die Situation eines Gemeinschaftsangehörigen, der Inhaber eines in einem anderen als seinem Herkunftsmitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbenen akademischen Grades ist, der den Zugang zu einem Beruf oder die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit erleichtert, auch insofern dem Gemeinschaftsrecht unterliegt, als es um die Beziehungen des Betreffenden zu seinem Herkunftsmitgliedstaat geht. Daher darf ein Mitgliedstaat die Führung dieses Grades in seinem Hoheitsgebiet zwar von einer behördlichen Genehmigung abhängig machen; das Genehmigungsverfahren darf aber nur bezwecken, zu überprüfen, ob dieser Grad ordnungsgemäß verliehen worden ist.

Eines der bekanntesten Urteile in diesem Bereich ist das Urteil Bosman (1995), in dem der Gerichtshof auf Ersuchen eines belgischen Gerichts über die Vereinbarkeit von Regeln von Fußballverbänden mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer entschied. Er stellte fest, dass der Berufssport eine wirtschaftliche Tätigkeit ist, deren Ausübung nicht durch Regeln über den Transfer von Spielern oder die Begrenzung der Anzahl der Spieler, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, behindert werden darf. Die letztgenannte Erwägung wurde in späteren Urteilen auf Berufssportler ausgedehnt, die aus Drittländern stammen, die mit den Europäischen Gemeinschaften durch eine Assoziation (Urteil Deutscher Handballbund, 2003) oder eine Partnerschaft (Urteil Simutenkov, 2005) verbunden sind.

  • Freier Dienstleistungsverkehr

Ein Urteil von 1989 über den freien Dienstleistungsverkehr betraf einen britischen Touristen, der in der Pariser Metro überfallen und schwer verletzt worden war. Auf Vorabentscheidungsersuchen eines französischen Gerichts entschied der Gerichtshof, dass der Betroffene als Tourist Empfänger von Dienstleistungen außerhalb seines Landes ist und daher vom gemeinschaftsrechtlichen Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit erfasst wird. Er hat infolgedessen Anspruch auf die gleiche Entschädigung wie ein französischer Staatsangehöriger (Urteil Cowan).

Auf Vorabentscheidungsersuchen luxemburgischer Gerichte entschied der Gerichtshof, dass nationale Rechtsvorschriften, die dazu führten, dass einem Versicherten die Erstattung von Kosten einer Zahnbehandlung versagt wurde, weil diese in einem anderen Mitgliedstaat erbracht worden waren, eine unzulässige Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen (Urteil Kohll, 1998), und dass die Ablehnung der Erstattung von Kosten im Zusammenhang mit dem Erwerb einer Brille im Ausland als eine unzulässige Behinderung des freien Warenverkehrs anzusehen ist (Urteil Decker, 1998).

  • Gleichbehandlung und soziale Rechte

Eine Bordstewardess hatte gegen ihren Arbeitgeber geklagt, weil sie hinsichtlich des Arbeitsentgelts gegenüber ihren männlichen Kollegen, die die gleiche Arbeit verrichteten, diskriminiert worden sei. Auf Vorabentscheidungsersuchen eines belgischen Gerichts entschied der Gerichtshof 1976, dass die Bestimmung des EWG-Vertrags, die den Grundsatz der Gleichheit des Arbeitsentgelts für weibliche und männliche Arbeitnehmer aufstellt, unmittelbare Wirkung hat (Urteil Defrenne).

Mit der Auslegung von gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über die Gleichbehandlung von Mann und Frau trug der Gerichtshof zum Schutz der Frauen vor Kündigung im Zusammenhang mit der Mutterschaft bei. Weil sie wegen mit ihrer Schwangerschaft verbundenen Schwierigkeiten nicht mehr arbeiten konnte, war eine Frau entlassen worden. 1998 erklärte der Gerichtshof diese Kündigung als mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar. Die Entlassung einer Frau während ihrer Schwangerschaft wegen Fehlzeiten, die durch eine mit der Schwangerschaft zusammenhängende Krankheit verursacht worden sind, stellt eine verbotene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar (Urteil Brown).

Zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer muss diesen ein bezahlter Jahresurlaub zustehen. 1999 beanstandete die britische Gewerkschaft BECTU, dass die britische Regelung, die dieses Recht Arbeitnehmern mit kurzfristigen Arbeitsverträgen vorenthielt, nicht im Einklang mit einer Gemeinschaftsrichtlinie über die Arbeitszeitgestaltung stehe. Der Gerichtshof entschied (Urteil BECTU, 2001), dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein allen Arbeitnehmern unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsendes soziales Recht ist, das keinem Arbeitnehmer vorenthalten werden darf.

  • Grundrechte

Mit der Feststellung, dass die Wahrung der Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Einhaltung der Gerichtshof zu sichern hat, hat der Gerichtshof erheblich zur einer Erhöhung der Schutzstandards für diese Rechte beigetragen. Dabei lässt er sich von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und den völkerrechtlichen Verträgen über den Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte, leiten, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind.

Nach zahlreichen terroristischen Anschlägen gegen Polizisten wurde beschlossen, dass die Polizeikräfte in Nordirland Schusswaffen tragen sollen. Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit wurde den bei der Polizei beschäftigten Frauen jedoch (auf der Grundlage einer vom zuständigen Minister ausgestellten und gerichtlich nicht anfechtbaren Bescheinigung) das Tragen von Schusswaffen nicht gestattet. Daraufhin wurde keiner Frau mehr ein Vollzeit-Arbeitsvertrag bei der nordirischen Polizei angeboten. Auf Vorabentscheidungsersuchen eines Gerichts des Vereinigten Königreichs entschied der Gerichtshof, dass der Ausschluss jeglicher richterlichen Befugnis zur Kontrolle einer Bescheinigung einer nationalen Behörde dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes entgegensteht, auf den sich jeder, der sich durch eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts für beschwert hält, berufen kann (Urteil Johnston, 1986).

  • Unionsbürgerschaft

Die Unionsbürgerschaft, die nach dem EG-Vertrag jedem Angehörigen eines Mitgliedstaats zusteht, beinhaltet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes das Recht, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuhalten. Demnach hat auch ein minderjähriger Angehöriger eines Mitgliedstaats, der über eine Krankenversicherung und über ausreichende Existenzmittel verfügt, ein solches Aufenthaltsrecht. Der Gerichtshof entschied, dass es nach dem Gemeinschaftsrecht nicht erforderlich ist, dass der Minderjährige selbst über die notwendigen Existenzmittel verfügt und dass die Weigerung, seiner Mutter, die Angehörige eines Drittlandes ist, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, dem Aufenthaltsrecht des Kindes jede praktische Wirkung nähme (Urteil Zhu und Chen, 2004).

Im selben Urteil stellte der Gerichtshof klar, dass ein Mitgliedstaat die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats selbst dann nicht beschränken darf, wenn der Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats bezweckt, einem Angehörigen eines Drittstaats ein Aufenthaltsrecht aufgrund Gemeinschaftsrechts zu verschaffen.

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